Abenteuer Meßstetten

Die Rawa-Familie aus dem Irak soll zu ihrem zweiten Interview nach Meßstetten kommen, Termin Montag, 14.11. 2016, 13 Uhr heißt es klar in dem Brief. Ich entschließe mich, mitzufahren, denn ich will wissen, wie man unsere Flüchtlinge behandelt. Ich will ihnen auch irgendwie zur Seite stehen.

Wo aber liegt Meßstetten? Nach der Postleitzahl könnte es bei Heilbronn sein – aber der Blick auf die Karte zeigt eine ganz andere Gegend: Schwäbische Alb.
Ach ne, ich ziehe mein Angebot zurück, sie mit dem Auto hinzufahren. Vielleicht ist es einfacher und gemütlicher, den Zug zu nehmen. Man kann sich dann ja auch miteinander beschäftigen.

Ich suche aus dem bahn.de eine Verbindung heraus, na, da sind wir 20 Minuten vor dem Termin dort, wenn wir um 8 abfahren. Aber Rawa will die frühere Verbindung nehmen und Ramad, ihr 8-Jähriger erklärt mir, „wenn Züge spät“, denn wenn sie nicht pünktlich da sind, werden sie wieder nach Hause geschickt und müssen auf einen neuen Termin warten. Die beiden großen Kinder wollen unbedingt mit, ich schreibe ihnen für die Schule eine Entschuldigung.  Ich erfahre außerdem, sie bekommen ein Baden-Württemberg Ticket ersetzt, also nehmen wir die langsamen Züge.

Hinterher weiß ich: Sie haben in allen Vorschlägen und Bitten Recht gehabt – Kinder und Mama. Ich bin froh, dass wir ihren Vorstellungen gefolgt sind.

Montag, Bus Abfahrt um 5:43 in Oftersheim am Rathaus. Sie sitzen, als ich 2 Minuten vor Abfahrt komme, auf der verkehrten Seite. Rüber! Wir warten. Kein Bus, der uns nach Schwetzingen zum Bahnhof fährt. Dann erzählt Zahra, dass vorhin schon einer gekommen ist! Also früher kam als der Fahrplan sagte.

Was tun?

„Bleibt hier, ich hole mein Auto!“

Gesagt getan. Wie ich es später noch öfter erleben werde, „funktionieren“ die Kinder ohne Murren und Klagen. Schnell nach Schwetzingen. Wir sind kaum eine Minute auf dem Bahnhof, fährt unser Zug nach Stuttgart ein. Ich lache! Geschafft!!

Wir setzen uns nach oben, haben einen weiten Blick in die Dunkelheit, aber irgendwann mal dämmert es und dann sehe ich auch die Sonne aufgehen. Schön! Zwischendrin packe ich das „erste Quartett“ für den fünfjährigen Yusuf aus und kann gleich die Regeln dafür in die Tonne werfen. Er macht sie selbst! Und irgendwann mal verfeinert er sie, das merke ich an seinen Reaktionen, wenn ich was „falsch“ ablege. Die Kartenhalter sind klasse! Zahra hab ich ein Mädchen-Mandala Buch mitgebracht und Ramad kann ich ein Duden-Kindergartenbuch in die Hand drücken und mit ihm lesen.

Stuttgart! Oh es ist kalt – eine Stunde warten auf diesem Bahnhof ist ziemlich ungemütlich. Aber keiner klagt. Auch nicht unser Jüngster.

Da unser Zug, richtige Nummer, richtige Zeit, richtiges Gleis.

Wir steigen ein. Wir fahren los. Mitten in dem Lärm des fahrenden Zugs eine Durchsage, die ich aber nicht verstehen kann. Der Zug ist geteilt, ein Teil fährt nach Horrenberg, einer nach Aulendorf. Kein Zugbegleiter, den ich fragen kann, auf welcher Strecke denn unser (kleiner) Zielort – ich habs schon vergessen, wie er hieß – sein kann, vielleicht Balingen? Erst mal fahren wir, kommen in Tübingen an. Ist es da, dass der Zug geteilt wird? Ich frage einen jungen Mann, er überlegt, da mischt sich ein alter ein und sagt, wir müssten rasch in den ganz vorderen Teil umsteigen. Die Kinder sind schnell bereit, wir hasten raus – sehen die Rücklichter des Zugs. Ich wieder rein zu dem alten Mann: In einer Stunde kommt der nächste, den Sie nehmen können. Also warten wir auf dem kalten Bahnsteig. Zug kommt,

da ist ein Zugbegleiter, der uns kritisch anschaut, wir seien ja doch keine Familie. Das BW Ticket sei für Familien. Ich sage, das hab ich nirgends gelesen. Ja, es sei auch kompliziert und gibt uns die gestempelte Karte wieder. Kein Zugbegleiter danach hat sowas nochmal gesagt…
Der Zug fährt uns nach Balingen (?), dort sollen wir den Bus Nr. 17 nehmen. Wo ist der Busbahnhof? Ich frage und erhalte eine Antwort. Da sind ungefähr 12 verschiedene Stationen. Ich frage wieder, ein junger zigarettenrauchender Mann zückt sein Smartphone. Der Busfahrer sagt, ja, er fährt nach Tieringen, aber nicht nach Meßstetten, das sei nochmal ein anderer Bus. Der Smartphone-Mann weiß dann, dass dieser Bus dann um 11:15 abfährt, also eine Stunde Aufenthalt dort in Tieringen. Ich denke, immer ein Schrittchen näher ans Ziel – egal. Es wird sich schon was geben.

Wir kommen jetzt in den Winter, in Eis und Schnee. Wir sind in Tieringen an der Bushaltestelle nach Meßstetten. Industriegebiet. Kein Lokal zum Aufwärmen. Keine Klagen der Kinder. Rawa lässt Zahra mir sagen, dass ein Taxi jetzt gut wäre, sie hat Angst, den Termin zu verpassen.

Taxi. Hier? Nichts zu sehen.

Ich beschließe, in die nächste Firma zu gehen und stoße auf eine fähige und energische Sekretärin (?). „Können Sie uns helfen, wir brauchen ein Taxi nach Meßstetten.“ Ich verschweige, dass Rawa ein Smartphone hat, weil ich auch nicht damit umgehen kann. Telefonbücher werden gewälzt, ein wartender Mann hilft auch dabei. Der Chef taucht mal auf – er kriegt wohl alles mit. Aber schließlich wird ein Taxiunternehmen gefunden, es ist in ca. 15 Minuten hier. Wir gehen wieder hinaus in die Kälte. Zahra ist gerade ganz verschlossen, sagt nichts, ich spiele Schneewerfen mit Yusuf, der begeistert ist. Schließlich kommt ein großes Taxi, schließlich sind wir zu fünft und die Fahrerin Frau Kaufmann, eine kräftige patente Blonde packt erst die Kinder ein, gurtet sie an – kein Protest! Sie erzählt, sie weiß, wohin wir wollen, kennt den Ort, sie fährt öfter Flüchtlinge. Ah wie angenehm! Nun geht’s weiter hoch, alles ist schneebedeckt, wunderschöne Tannenwälder in weiß getaucht. Etwas Nebel. Frau Kaufmann lebt hier und findet die raue Alb wunderschön. Viel Schnee? 3-4 Meter sind nichts und meist hat es in der Hälfte des Jahres Schnee!

Ganz oben auf dem Berg setzt sie uns ab, an der Pforte der sogenannten LEA. Der Servicemann sucht und findet die Familie auf seiner Liste und zeigt ihnen, wo sie hin müssen. „Ich kann Sie aber nicht reinlassen“ sagt er zu mir. „Ist verboten. Ich kriege großen Ärger, wenn ich es doch mache.“ Und da steh ich mitten in der Einöde am Rand der Kasernen, die von der Bundeswehr stammen, ein eiskalter Wind weht, dürftig gebremst von ein paar Plastikwänden. Meine Familie ist verschwunden, sie kriegen was zu essen und machen dann das Interview. Wir haben nichts ausgemacht, weil ich ja auch nicht weiß, was jetzt mit mir passiert.
„Was mach ich denn jetzt mit ihnen?“ fragt der Servicemann und hat dann eine Idee. Es ist 11.30. VIEL Zeit für mich. Vielleicht nimmt mich die Taxifahrerin mit runter nach Albstadt und ich kann da ins Warme und Mittag essen. Sie macht es, fährt gerade eine Flüchtlingsfrau zum Arzt. Und wie komme ich da wieder hoch zu der Kaserne? Im Bahnhof eine Bäckerei mit Stühlen, ein belegtes Brot, Tee, mein Buch. Und WARM!!!
Wie lange soll ich da warten? Wie komm ich wieder hoch? Raten, spüren. Vor 14 Uhr werden sie nicht fertig sein, denke ich. Wieder frage ich und erfahre, dass da ein Bus hoch fährt und zwar bald. Nichts wie rein. Oben erkennt mich der Servicemann wieder und offenbar ist meine Familie noch nicht herausgekommen. Hier, denke ich, wäre ein Smartphone ja wirklich nicht schlecht. Also ich warte bei ihm, interviewe ihn, er erzählt mir sein Leben, sein Vater, Dresden, Übersiedlung in den Westen und ich erfahre von seiner einfühlsamen Haltung den Flüchtlingen gegenüber. Das gefällt mir sehr gut. Aber daneben vergeht die Zeit und die Eiseskälte nagt an meinen Zehen, meinen Beinen, meinen Armen. Au weia, so gefroren hab ich schon lange nicht mehr. Ich zittere schon. Lenke mich immer wieder ab mit dem Gespräch mit „Arnold“, so wird er genannt. Ich mache mir Sorgen. Ist ein langes Interview ein schlechtes Zeichen? Er hat natürlich keine Ahnung aber ist freundlich und sagt, manchmal dauert es eben lang. Nach 1 ½ Stunden warten hat es ein Ende. Sie sind da und ich freu mich wie eine Schneekönigin, umarme sie und erkläre, welche Optionen wir nun haben. Der Bus kommt erst um 17.30 nochmal. Noch so lange in der Kälte will ich nicht bleiben und entscheide, Taxi. Rufe auf Rawas Smartphone an, jetzt hab ich die Telefonnummer. Frau Kaufmann kommt in 15 Minuten, höre ich und freu mich wieder, dass sie da ist!

Im Bahnhof Albstadt ist ein etwas mürrischer Servicemann (welch Widerspruch!) von der DB, der druckt die Heim-Verbindungen aus – wow, bald sind wir wieder zu Hause – aber es ist die Verbindung mit dem ICE! Die gehen nicht mit dem Baden-Württemberg-Ticket. Also nochmal hin. Jetzt wird’s klarer. Es wird wieder dauern. Erst in Albstadt in der Bäckerei eine Stunde warten, die Kinder essen das von Mama mitgebrachte, ich eine heiße Schokolade – die Rawa unbedingt bezahlen will. OK gern. Dann sitzen wir im Zug nach Stuttgart. Dort gibt’s in dem Umbaubahnhof wieder mehr als eine Stunde Aufenthalt. Wir laufen herum, ich renne mit dem Rucksack auf dem Rücken mit Yusuf an der Hand die Strecken ab. Er lacht. So schön unbekümmert! Dann der Zug nach Karlsruhe. Kann kaum glauben, dass er eine ganze Stunde dorthin braucht. (Ich bin die ICE Dauer gewohnt). Aber er tut es. Meine Fähigkeit, mich spielerisch mit Yusuf zu beschäftigen, sinkt, ich bin KO. Er darf malen, hab ja einen Zeichenblock und Farben dabei.

Karlsruhe. Wieder 40 Minuten in der Kälte warten. Wir gehen in den Gang runter, da bläst der Wind nicht so sehr, wieder rennen wir beide, der Jüngste und die Älteste durch die Gänge.  Die drei anderen schauen uns zu.
Ich frage, wie das Interview war. Offensichtlich gut. Rawa lässt mich bitten, ob ich helfe, dass sie eine Wohnung finden, denn der Papa wird wohl auch bald kommen.

Dann unser letzter Zug. Um 9 Uhr sind sie in Oftersheim, Ramad und Zahra zählen die Minuten. Rawa lässt mich fragen, ob ich zum Essen mit komme, NEIN, ich brauche Pause, Ruhe. Fahre nach Schwetzingen weiter und hole mein Auto ab. Was ein Tag!

Ich habe die Kinder, die Familie besser kennen gelernt und bewundert, wie erzogen sie sind und wie man mit ihnen auch Abenteuer bestehen kann und wie gut Rawa auch den anstrengenden Yusuf im Griff hat.

 

Ulrike Franke